Unsere Autorin recherchierte zu Sexsekten und bewegte sich auch privat in der Tantra-Szene. Heute weiß sie um die Schattenseiten vieler Gruppen.
Missbrauch in der Tantra-Szene:Kommunen ohne Grenzen An einem schwülen Sommerabend stehe ich auf dem Balkon des Gemeindezentrums von Byron Bay und strecke meine Arme in den tropischen Regen. Es ist Februar 2012, ich bin auf dem „Taste of Love“-Festival in Australien. Im Raum hinter mir tanzen Frauen und Männer jeden Alters in Pluderhosen, Bikini-Tops und Seidenkaftans.
Hunderte von Frauen und Männern reisen 2012 zu jenem Festival an. Tagsüber nehmen sie an Vorträgen teil und nachts feiern sie – ohne Alkohol oder Drogen. Die Vorträge auf der Bühne mit lila Samtsofa und plüschigem Boudoir-Dekor drehen sich um Ganzkörperorgasmen und körperliche Ekstase. Die Veranstalter:innen des Festivals gehören zur International School of Temple Arts, kurz ISTA, einer weltweiten Organisation. Die Bewegung dahinter, die mich plötzlich so fasziniert, bezeichnet sich selbst als „Tribe“, Stamm. Mit dem Begriff „Sekte“ verbinde ich zu diesem Zeitpunkt vor allem gefährliche Psychokulte wie Scientology, eine moderne Seelenfängerkirche.
Potters Workshops hatten zum Ziel, sexuelle Blockaden bei Frauen zu lösen und alle zwischenmenschlichen Schranken zu überwinden. Das bedeutete nicht nur, dass die Toiletten keine Türen hatten, sondern auch, dass Teilnehmende zum Sex mit möglichst vielen anderen genötigt wurden. Auch in Österreich etablierte sich zu dieser Zeit eine solche Sekte: die Otto-Mühl-Kommune, mit ähnlicher Philosophie, und den gleichen verheerenden Konsequenzen.
2010 brachte die Massey Universität in Auckland eine Studie heraus, die ein düsteres Bild der ehemaligen Kommune zeichnete: Ein Drittel der Centrepoint-Kinder war sexuell missbraucht worden, nicht nur von Potter. Die meisten Kinder hatten emotionale Vernachlässigung erlebt. Die Folgen: Suchtverhalten, Identitätskrisen, Suizidversuche und zerrüttete Familien.
Mein Interesse stammt auch daher, dass ich mich zu der Zeit selbst neu zu einer Bewegung hingezogen fühle, in der radikale Hau-Ruck- und Schrei-Therapie, Seelenwäsche, sexuelle Befreiung und offene Beziehungen zum Repertoire gehören. Und Kommunen haben mich immer fasziniert. Auch deshalb will ich die Pioniere, die einst für ihren Traum jeden Besitz aufgaben, nicht grundsätzlich verdammen.
Als ich an ihre Tür in Auckland klopfe, tritt eine unscheinbare Frau mit praktischen Halbschuhen und Katzenhaaren auf dem Pulli heraus. Louise sagt, sie habe gerade ein Beruhigungsmittel genommen. Wir setzen uns draußen auf eine Bank. Die nächsten zwei Stunden sind verstörend. Einen Monat später sitzen wir zu dritt im Wohnzimmer von Barri Leslie. Die Stimmung ist erst herzlich, dann immer angespannter. Louise sitzt auf dem Sofa, ihr Körper gebeugt, ihr gegenüber Leslie, die viel redet und die Zeit damals aus ihrer Sicht erklärt. „Ich habe mich so furchtbar allein gefühlt“, presst Louise schließlich heraus, „Vier Jahre lang. Niemand kam mir zur Hilfe.
Alle Geschichten und Gerichtsfälle scheinen miteinander verwoben, ein undurchdringbares Dickicht. Immer wieder ecke ich mit meinen Recherchen an: Ein prominentes Opfer, das bereits im Fernsehen war, will plötzlich anonym bleiben und beauftragt einen Anwalt, der gegen meinen Verlag vorgeht. Auch andere drohen. Immer öfter fühle ich mich überwältigt, verstört und allein. 2014 gebe ich auf. Mein Buchprojekt ist vorerst gescheitert.
Der erste ISTA-Kurs, den ich 2013 in Australien nach dem Festival besuche, ist eher entladend als erotisch. Wir trommeln auf Kissen ein oder brüllen in die Hand, um aufgestaute Gefühle loszuwerden. In Psychodrama-Rollenspielen geben wir uns gegenseitig, was wir von unseren Eltern nicht bekommen haben. Ich bemale meinen Körper mit rotbrauner Farbe, die wie Blut aussieht, und robbe mit verbundenen Augen auf dem Bauch durch den Regenwald – ein wildes, animalisches Spiel.
In den sozialen Medien bemerke ich jedoch, wie Kritik an ISTA als Hexenjagd bezeichnet oder „Klatsch“ abgetan wird. Wer offen Vorwürfe gegen Baba Dez und andere äußert, bekommt zu hören, es sei eine „Projektion“. Diese Form von Manipulation, auch als „Victim blaming“, Opfer-Bezichtigung, bekannt, steht für mich mehr und mehr im Widerspruch zu all dem Reden über Liebe und Wahrheit.
Die Aufarbeitung Ernüchtert fliege ich zurück nach Neuseeland, aber mit Zwischenstopp in England. Ein letztes Mal bin ich dort Assistentin bei ISTA. Die beiden Leiterinnen, die ich mag und respektiere, sind für meine Warnungen, dass ihre Schule irgendwann wie Agama enden könne, nicht offen. Der Kurs ist bis auf den letzten Platz gefüllt und wir Helfer am Limit. Der Geräuschpegel der vielen Schreie, die Dramen und Eruptionen ermüden mich.
Ich bin nicht ausgebeutet oder missbraucht worden, habe weder Freunde noch Familie aufgegeben, konnte mir die Kursgebühren leisten. Niemand drängt mich weiterzumachen oder überschüttet mich mit wegen des Ausstiegs mit Hass. Dennoch fühle ich mich wie eine Verräterin.
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